Ein Kreuzzug auf deutschem Boden – Hintergrundartikel zu „Der Chirurg und die Spielfrau“

27. Mai 1234 – Schlacht bei Altenesch

Heute geht es in meinem Blog um die Schlacht von Altenesch vom 27. Mai 1234. Diese Schlacht markiert das Ende des Kreuzzugs gegen die Stedinger. Dabei handelt es sich wohl um den einzigen Kreuzzug auf deutschem Boden. Ich habe mich vor allem damit beschäftigt, weil der Stedingerkrieg in meinem historischen Roman „Der Chirurg und die Spielfrau“ vorkommt. Zur geografischen Einordnung: Altenesch liegt heute im Landkreis Wesermarsch in Niedersachsen.

Die Kreuzzüge sind eines der blutigsten und zugleich faszinierendsten Kapitel des Mittelalters. Zwischen dem elften und dem dreizehnten Jahrhundert waren die Kreuzzüge eine Massenbewegung, die breite Volksschichten erfasste – vom Kaiser bis zum Kind – und eine enorme Anzahl an Menschenleben kostete. Allerdings denken wir bei Kreuzzügen vor allem an die Feldzüge der Kreuzfahrer ins Heilige Land, die die Eroberung Jerusalems zum Ziel hatten. Dass es auch in unserem Land einen Kreuzzug gegeben hat, wissen die Wenigsten.

Beginnen wir mit einer Klärung der Grundlagen. Zunächst einmal wurde der Begriff Kreuzzug überhaupt erst seit dem frühen dreizehnten Jahrhundert verwendet. Frühe Kreuzfahrer sagten, sie „hätten das Kreuz genommen“ oder wären auf einer „bewaffneten Pilgerfahrt“. Sie bezogen sich auf das Jesus-Wort aus Lukas 9: 23. Ich zitiere: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach“. Als Symbol ihrer Berufung hefteten sie sich ein Kreuz – meist aus Stoff – an die Kleidung.

Auslöser für den Ersten Kreuzzug war die Einnahme von Jerusalem durch die türkischen Seldschuken im Jahr 1071. Die Heilige Stadt war damals schon lange ein beliebter Wallfahrtsort, durch diese Eroberung aber nicht mehr uneingeschränkt zugänglich. Nach langen Streitereien rief Papst Urban II. 1095 die Christen zur Befreiung des Heiligen Landes auf. Allen, die dem Ruf folgten, wurde der Ablass, also die Vergebung ihrer Sünden zugesagt. Der Schlachtruf „Gott will es!“ verbreitete sich rasch. Bereits ein Jahr später zogen Tausende los; ganze Ortschaften wurden entvölkert. Dieser Volkskreuzzug oder Bauernkreuzzug war ein Vorläufer des Ersten Kreuzzugs, der ebenfalls im Jahr 1096 begann und der drei Jahre später mit der Einnahme Jerusalems und einem Blutbad endete. Später folgten sieben weitere Orientkreuzzüge. Als Kreuzzüge werden darüber hinaus die etwa fünfzig Eroberungsfeldzüge gegen die Heiden im Baltikum und gegen die Hussiten. Die sogenannten Heidenfahrten in den Osten sind übrigens ein Thema in meinen historischen Romanen „Die Perlenfischerin“ und „Die Feinde der Hansetochter“. Als letzter Kreuzzug gilt in der geschichtlichen Forschung der Feldzug gegen das Osmanische Reich in den Jahren 1443 und 1444. Kreuzzüge durften nur gegen Heiden geführt werden. Auch in dieser Hinsicht war der Feldzug gegen die Stedinger eine Besonderheit, denn die Stedinger waren Christen.

Wie passen denn nun die Stedinger in diese Kreuzzugs-Geschichte? Und wer waren die Stedinger überhaupt?

Stedingen oder Stedinger Land wird ein Landstrich in der Wesermarsch genannt, der sich zu beiden Seiten der Weser nördlich von Bremen erstreckt. Teile dieses Marschlandes wurden im zwölften Jahrhundert an Siedler – vielfach Friesen – übergeben, um es einzudeichen, zu entwässern und damit urbar zu machen. Für ihre Arbeit wurde diesen Stedingern oder Uferbewohnern, wie sich die Bauern nannten, zugesagt, dass sie weitreichende Freiheiten genießen durften und niedrige Abgaben leisten mussten. So wurde Stedingen zu einer wohlhabenden Bauernrepublik. Dem zuständigen Bremer Erzbischof waren diese unabhängigen und reichen Stedinger ein Dorn im Auge. Immer wieder wollte er sie zwingen, höhere Abgaben zu leisten. Bereits ab 1204 kam es deshalb zu Aufständen und kriegerischen Handlungen. Noch waren die Stedinger aber anerkannt und respektiert. Kaiser Friedrich II. lobte sie sogar, weil sie ihm und dem Deutschen Orden bei seinem Kreuzzug ins Heilige Land so tatkräftige Hilfe geleistet hatten. Auch dem Bremer Erzbischof erwiesen die Stedinger 1217 bei seinem Einzug in die Bischofsstadt wieder die Ehre.

Unter dem Bremer Erzbischof Gerhard II. eskalierte jedoch der Streit. Der Bischof hatte bereits 1227 bei der Schlacht bei Bornhöved in Schleswig-Holstein gegen den dänischen König Kampferfahrung gesammelt. Doch dann überfiel der Bruder des Erzbischofs, Hermann Graf zur Lippe, am Weihnachtstag 1229 Weststedingen. Im unwegsamen Sumpf und zwischen den vielen Wasserwegen waren die Einheimischen gegenüber den feindlichen Rittern im Vorteil. Hermann zur Lippe wurde bei Hasberge besiegt und getötet – und der Erzbischof schwor möglicherweise, seinen Bruder zu rächen. Dafür war ihm jedes Mittel recht.

Bereits 1230 erklärte Gerhard II. die Stedinger zu Ketzern. Er warf ihnen vor, Kirchen und Klöster beraubt und verbrannt, Priester und Mönche getötet und mit Wachsbildern heidnischen Zauber getrieben zu haben.

Papst Gregor IX. gab dem Drängen des Bremer Erzbischofs nach und gestattete diesem 1232 zunächst unter Einschränkungen und 1233 vollkommen die Verkündigung eines großen Kreuzzugablasses. Dieser offizielle Aufruf stellte den Kampf gegen die Stedinger einer Kreuzfahrt ins Heilige Land gleich. Auch hier wurden den Kämpfern also alle Sünden erlassen. Kampferprobte Ritter zogen in die Wesermarsch, zumal auch Kaiser Friedrich II. die Reichsacht, also eine harte Strafe, über die widerspenstigen Marschbauern verhängt hatte.

Die Stedinger wehrten sich. 1233 bedrohten sie Bremen gemeinsam mit Herzog Otto von Braunschweig-Lüneburg. Wenig später verbündete sich der Bremer Rat jedoch mit dem Erzbischof und den Grafen von Oldenburg und Stotel gegen die Stedinger. Der Erzbischof hatte sich die Unterstützung der Bremer gegen Zusicherung einer erheblichen Erweiterung ihrer Rechte erkauft. Offenbar vertrauten aber auch die Bremer dem Erzbischof nicht, denn sie ließen sich Abmachungen von einhundert Zeugen, darunter Grafen und Edelleute, beeiden. Tatsächlich wollte sich der Erzbischof nach dem Sieg nicht mehr an die Zusagen erinnern, sodass die Stadt ihre ausstehenden Rechte bei Papst Gregor einklagen musste.

Immer mehr Kreuzritter fanden sich in Niedersachsen ein, darunter auch höhere Adelige wie Herzog Heinrich von Brabant, der bei dem Feldzug die Führung übernahm. Am 27. Mai 1234 besiegte ein Heer aus Kreuzfahrern vom Niederrhein und aus den Niederlanden sowie Kämpfern aus Bremen und Oldenburg die Stedinger vernichtend bei Altenesch. Etwa zweitausend Stedinger unter ihren Anführern Thammo von Huntorp, Detmar tom Dieke und Bolko von Bardenfleth standen rund achttausend Kreuzrittern gegenüber.

Der Chronist Albert von Stade berichtete, dass die Geistlichkeit am Rande des Schlachtfelds die Kämpfer mit Gesängen anfeuerte. Beispielsweise sollen sie den Choral „Mitten im Leben sind wir im Tod“ („Media vita in morte sumus“) und andere Klagelieder gesungen haben. Ich zitiere aus der Chronik: „Kein Verzug, jene Thoren und Bösewichter schwanden in ihren Gedanken dahin, weil sie von dem Heere des Herrn unterdrückt wurden, von Lanzen durchbohrt, von Schwertern getroffen, von den Füßen der Pferde zertreten. Und so stark kam die Hand des Herrn über sie, dass in kurzer Zeit sechstausend derselben zu Grunde gingen.“

Wie aufmerksame Zuhörer bemerkt haben, gehen die Angaben der Zahlen der Kämpfenden auseinander. Das ist aber für die damaligen Chroniken durchaus üblich. Genau werden wir es wohl nie wissen.

Nutznießer der Niederlage in Altenesch waren neben dem Erzbischof die Oldenburger Grafen, die die Höfe enteigneten und unter sich aufteilten. Die bäuerlichen Freiheiten gingen verloren.

Eine Miniatur in der Sächsischen Weltchronik und auch spätere Überlieferungen legten nahe, dass die Stedinger einfache Landleute waren. Dass die Kreuzritter also einem Heer von Bauern gegenüberstanden. Das kann jedoch kaum der Wahrheit entsprechen, wenn man daran denkt, wie Kaiser Friedrich II. die Kampfeskraft der Stedinger bei den Kreuzzügen ins Heilige Land gelobt hatte.

Noch bis ins 16. Jahrhundert fand in Bremen am Jahrestag der Schlacht bei Altenesch eine prächtige Gedächtnisfeier mit Festgottesdiensten, feierlicher Prozession und Verkündigung eines zwanzigtägigen Ablasses statt.

Aber sind die Stedinger eigentlich nach damaligem Kirchenrecht zu Recht als Ketzer verurteilt worden? Sicher ist, dass allenfalls die Missachtung der kirchlichen Schlüsselgewalt häresieverdächtig war, „wohingegen die überwiegende Mehrzahl der vorgebrachten Anklagepunkte – zum Beispiel Gefangennahme und Tötung von Klerikern, Verwüstung von Kirchen und Klöstern, Meineide, Hostienfrevel, abergläubische Praktiken – entweder unbewiesene Unterstellungen oder zumindest maßlose Übertreibungen waren, die zudem in den meisten Fällen nicht dem Häresieverdacht unterlagen. Alles in allem waren die Stedinger wohl keine schlechteren Christen als ihre bäuerlichen Standesgenossen in anderen Gegenden Deutschlands, urteilt Dirk Hägermann in „Bremer Kirchengeschichte“. Der Vorwurf war also lediglich eine Waffe des Erzbischofs, um die rebellischen Stedinger wirkungsvoller bekämpfen zu können.

Der Wahlspruch der Friesen „Lever dod as Slav“, also „Lieber tot als Skalve“, der den Stedingern zugeschrieben wird, taucht übrigens erst 1653 zum ersten Mal auf. Er kann also in Wahrheit mit der Schlacht von Altenesch nichts zu tun haben. Die Geschichte des Spruchs wurde verschiedentlich ausfantasiert. So legten der Dichter Detlef von Liliencron und der Sylter Chronist Christian Peter Hansen sie dem rebellischen Fischer Pidder Lüng in den Mund.

Später instrumentalisierten die Nationalsozialisten den Freiheitskampf der Stedinger. Zum siebenhundertsten Jahrestag machte sich der Gauleiter Carl Röwer für eine Spielstätte auf dem Bookholzberg stark, die sogenannte „Stedingsehre“, auf der vor Nazi-Größen und zehntausenden Besuchern „De Stedinge“ von August Hinrichs aufgeführt wurde. Das Stück und die Aufführungen wurden von den Nationalsozialisten ideologisch und propagandistisch ausgeschlachtet.

Die bereits 1229 geweihte Sankt Gallus-Kirche steht noch heute auf dem früheren Schlachtfeld. Ein gusseiserner Obelisk erinnert an der Landstraße 875 in Lemwerder-Altenesch an die Schlacht, das sogenannte Sankt-Veits-Denkmal. Der Heimatverein Altenesch e.V. pflegt heutzutage die Erinnerung an die Schlacht.

In meinem historischen Roman „Der Chirurg und die Spielfrau“ haben mein Chirurg Thonis und meine Spielfrau Elena mit dem Bremer Erzbischof zu tun und Thonis muss mit ihm in die Schlacht von Altenesch ziehen. Meine Romanfigur hat in dem sogenannten „Chirurgen von der Weser“ einen wahren Kern, der mit dem Hof Ottos von Braunschweig-Lüneburg verbunden war – doch das ist das Thema zweier früherer Blogbeiträge und Podcast-Folgen. Viel Spaß dabei!

Abbildung: Die Schlacht bei Altenesch, Miniatur in der Sächsischen Weltchronik, dreizehntes Jahrhundert.

Mittwoch, 27. Mai 2020

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