Bonus-Szene „Gefährlicher Sog“

Manche Szenen schaffen es nicht ins Buch … wie diese hier. Ich wollte eigentlich den Fund des Opfers in meinem neuen Sylt-Krimi „Gefährlicher Sog“ – eine Standardszene in einer Reihe – mal anders erzählen. Da Möwen allgegenwärtig auf Sylt sind, tüftelte ich mit dieser Szene herum. Diese Szene schaffte es sogar ins Lektorat – in Absprache mit meiner Lektorin flog sie dann zuletzt doch raus. Was sagt ihr dazu? Gefällt euch die Perspektive? Und an die Autor:innen unter euch: wer von euch kennt es auch, dass man so etwas stilistisch ausprobiert und es dann doch verwirft? Tat es sehr weh, die Szene wegzulassen? Für mich war es letztlich ein Versuch … Schreiben ist Ausprobieren. Viel Spaß dabei!

Gefährlicher Sog – Liv Lammers ermittelt zum achten Mal auf Sylt – Sabine Weiß – Bonus-Szene (nicht im im Lübbe-Verlag 2024 veröffentlichten Buch)

Hörnum, 8. April, 6.10 Uhr

Der süßliche Geruch lenkte sie ab. Kaum konnte sie sich auf das Konzert der an- und abschwellenden Juchzer Kopf konzentrieren. Unwirsch zog sie den Schnabel aus dem Gefieder und spreizte die Schwingen. Finster war es. Lediglich ein verwaschener Lichtstreifen am Meeresende ließ den Sonnenaufgang erahnen. Dabei hatte sie so herrlich geträumt! Mit anderen Artgenossen war sie bei klarem Himmel über dem Ufersaum gekreist. In hoch tönenden Schreien hatten sie sich gegenseitig die besten Fischsichtungen zugerufen. Gerade hatte sie die Flügel angelegt, um im Sturzflug einen silbrig schimmernden Hering aus den Wogen zu picken, als der faulig-süße Duft sie geweckt hatte.

Sie paddelte ein wenig, um den Wellengang auszugleichen. Ließ die Augen wandern. Keiner ihrer Artgenossen war zu sehen. Dafür Weiß, wabernd und hell über dem Höhlengrau von Himmel und Meer.

Kräftige Schläge mit Schwimmfüßen und Flügeln, schon hatte sie sich in die Luft erhoben. Was für einen Hunger sie auf einmal hatte! Sie stieß einen klagenden Laut aus. Jetzt ein Fisch, ein Krebs oder eines dieser knusprigen Dinger, die die Zweibeiner in Papiertüten herumtrugen. Woher kam dieser Duft, der ihren Magen zum Zucken brachte? Hoch hatte sie sich über die Dünen erhoben. Die schwarzen Spitzen ihrer Schwingen verschwanden im Dunkel der Morgendämmerung. Schemenhaft konnte sie den unendlich scheinenden Sandstrand ausmachen. Einige ihrer Artgenossen schätzten die Steinklötze in der Inselmitte, zwischen denen man den Zweibeinern allerlei Köstlichkeiten abjagen konnte. Andere zog es auf die dem Festland zugewandte Seite, auf der das Wasser kam und ging und mit dem Meeresboden reichlich Futter präsentierte. Dort aber gab es für ihren Geschmack zu viel Gedränge. So viele fremdartige Vögel, die in Schwärmen einfielen, sobald das Wetter besser wurde, hier herumbalzten und sich vollfraßen! Die plumpen Gänse, die plappernden Singvögel – armselig im Vergleich zu ihrer hoheitsvollen Gattung, die die Zweibeiner anscheinend Silbermöwen nannten. Allerdings hatte sie auch schon „Promenadengeier“ gehört, was sich in ihren Ohren nicht so vornehm anhörte. Nein, für sie war das nichts. Sie liebte die Sonnenuntergangsseite der Insel, die eine einzige windumbrauste Festtafel war.

Sie richtete ihren Flug nach dem Geruch aus, denn noch immer behinderten Dunkelheit und Nebel die Sicht. Gleich hätte sie das Objekt ihrer Begierde erreicht. Sie ließ sich tiefer sinken, sah den Haufen grober Steinblöcke. Die Brocken mit ihren Ausläufern, die wie gespreizte Klauen aussahen, verschandelten zwar den Strand, doch zwischen ihnen verfing sich regelmäßig der eine oder andere Leckerbissen. Tatsächlich schien da etwas zu sein …

Im selben Augenblick erregte ein anderer Duft ihre Aufmerksamkeit. Salziger als die Meerluft, würziger als eine abgelagerte Makrele. Auch nicht schlecht. Mit angewinkelten Schwingen gab sie ihrem Flug eine neue Richtung. Plötzlich sah sie Zweibeiner am Spülsaum, stinkend und laut. Ihre langen Stöcke mit den dünnen Bändern hatten sie in den Sand gespießt. In den Händen hielt der Kleinere ein kornfarbenes Ding, aus dem etwas Hellbraunes herausragte, dazu gelbe und rote Tunke. Lecker! Das gab es sonst nur an den Buden, an denen die Zweibeiner wurmlange Reihen bildeten. Sie stieß herab, versuchte, den Happen zu schnappen. Verpasst!

Die Zweibeiner schrien auf, hüpften albern umher. Beinahe ließen sie die Leckerbissen fallen – das wäre gut, denn hätte sie ihre Beute. Noch ein Sturzflug. Jetzt kamen Artgenossen hinzu, wie lästig!

Sie stieß einen schrillen Schrei aus, signalisierte, dass sie diese Beute als Erste entdeckt hatte. Nun packte der große Zweibeiner das Klappding, auf dem sie eben noch gesessen hatte, und wedelte damit.

Sie sah den Schlag aus dem Augenwinkel kommen, konnte aber nicht ganz ausweichen. Was erlaubte dieses plumpe Weibchen sich! Das musste sie sich nicht bieten lassen! Glücklicherweise hatte sie die Wahl. Entschieden schlug sie mit den Flügeln, um zu den Steinbrocken zurückzukommen, ehe ihre eilig herbeigekommenen Artgenossen auch den dort verborgenen Leckerbissen entdecken würden.

Der Geruch wurde schnell intensiver. Ihr Magen zuckte erneut. Kaum hielt sie den Hunger noch aus. Da! Etwas Großes lag zwischen den Brocken an der Wasserlinie. Ein Zweibeiner. Wellen umspielten Teile des Körpers. Sie beobachtete ihn, bis sie sicher war, dass er sich nicht bewegte. Wie gefleckt der Körper war! Und wie gut er roch! Süßlich und faul zugleich, wie sie es liebte. Sie würgte ein paar Krebsschalen aus dem Vormagen, um Platz zu schaffen. Dann hüpfte sie auf den Körper zu, suchte sich eine saftige Stelle und begann zu picken.

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