Medizin im Mittelalter und die Inspiration für meine Roman-Figur – Hintergrundartikel zum „Chirurgen von der Weser“ und seinen Lehrmeistern
Wer war eigentlich dieser „Chirurg von der Weser“?
Kurz gesagt: er war einer der berühmtesten Wundärzte des 13. Jahrhunderts.
Sein Handbuch ist eines der bekanntesten und meistkopierten Werke der mittelalterlichen Medizingeschichte: Das Manuskript Cyrurgia domini et magistri Willehelmi de Congenis. Der Verfasser war eine Koryphäe, auf dem neusten Stand der Medizin und ein absoluter Praktiker.
In dem Manuskript beschreibt ein Chirurg, der seinen Namen nicht nennt, die Heilkunde seines Lehrers, des burgundischen Wundarztes Wilhelm Burgensis (auch Wilhelm de Congenis genannt). Wilhelm Burgensis, der im Dienste Simon de Montforts stand, hielt in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts an der medizinischen Schule in Montpellier Vorlesungen über die Roger-Chirurgie und ergänzte sie durch eigene Erkenntnisse. Neben den Universitäten von Paris und Bologna gehörte Montpellier damals zu den Zentren des wissenschaftlichen Medizinunterrichts.
Aber zunächst einige Informationen zum medizinischen Hintergrund: Roger Frugardi (um 1138 bis um 1194) aus der norditalienischen Po-Ebene wirkte in Parma. Er fasste in seinen Lehren das medizinische Wissen seiner Zeit zusammen, auch aus den arabischen Schriften – das war damals eine Besonderheit – und ergänzte es durch eigene Erkenntnisse. In seinem interessanten Artikel „Gestaltwandel und Zersetzung“ zeichnet der Medizinhistoriker Gundolf Keil nach, wie Frugardis Lehren vom 12. bis zum 16. Jahrhundert weitergetragen, weiterentwickelt und auch verfremdet wurden. Zu den frühen Adaptionen gehört beispielsweise die Leipziger Rogerglosse. Auch der berühmte Ortolf von Baierland bezog sich im chirurgischen Teil seines Arzneibuches auf die Roger-Chirurgie. Beispielsweise in der British Library und der Bodleian Library in Oxford haben sich wunderbar illustrierte Ausgaben von Roger Frugardis Lehren erhalten.
Besonders die Abbildungen von Gehirnoperation, Gesichtschirurgie sowie die Entfernung von Pfeilen aus dem Schädel lassen einen erschaudern. Natürlich gab es auch Krebs-Operationen, Starstich, Blasenstein-Entfernungen sowie die Behandlung mit dem Brenneisen.
Die Vorlesungen von Wilhelm de Congenis hielt also „unser“ unbekannte Schüler fest und veröffentlichte sie, später ergänzte er sie durch ein weiteres Manuskript mit seinen eigenen Erkenntnissen. Von dem Verfasser kennen wir nur die ungefähren Lebensdaten. Er wurde vor 1220 geboren und starb vor 1266. Erst aus dem Zweitkommentar (Notulae) erfahren wir mehr. Der unbekannte Chirurg schreibt darin über seine eigenen Erfahrungen in einer Praxis in Paris und im Gebiet der Weser. Beispielsweise berichtet der Chirurg über eine Augenoperation, die er an dem Kanonikus des Stiftes Niggenkerken zu Höxter vorgenommen hat. Für diese Operationen – eine Lidplastik, frühe plastische Chirurgie – hat er eigene Instrumente entwickelt. Er war also anscheinend auf die Behandlung von Augenleiden spezialisiert.
Möglicherweise hat der Chirurg beim Herzog von Braunschweig als Leibarzt fungiert, denn er widmete seine Handschrift seinem Herzog „domino meo O. duci“, der von Historikern als Herzog Otto das Kind von Braunschweig und Lüneburg identifiziert wurde.
Einem weiteren Publikum wurde dieser Chirurg von der Weser durch den Medizinhistoriker Karl Sudhoff in seinem Werk Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter bekannt gemacht.
Weitere Hinweise auf die Identität dieses Arztes ergaben sich 1988 als bei archäologischen Ausgrabungen des Seminars für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen in der untergegangenen Stadt Corvey im Keller eines 1265 zerstörten Hauses westlich der Marktkirche medizinische Instrumente entdeckt wurden, die darauf schließen lassen, dass der Chirurg dort gewohnt haben könnte. Nach Einschätzung des Medizinhistorikers Gundolf Keil, den der verantwortliche Archäologe Hans Georg Stephan konsultierte, waren diese Instrumente auf der Höhe ihrer Zeit und zeigten zudem Ansätze zur Weiterentwicklung und dabei höchste Präzision (Quelle: der Artikel „Der Chirurg von der Weser (ca. 1200 bis 1265) ein Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte“ von Hans-Georg Stephan). Derzeit sind diese medizinischen Gerätschaften in der Ausstellung „Medicus“ im Museum Speyer zu sehen.
Copyright der Abbildung: British Library, Roger Frugardi Chirurgia
Freitag, 3. April 2020