Wie reiste man im Mittelalter?

Die Ferienzeit ist angebrochen, deshalb möchte ich Ihnen heute etwas über das Reisen im Mittelalter erzählen. Dies ist der Text zu einem Podcast – Sie können den Beitrag also auch hören.

Da dies ein Thema ist, über das etliche Bücher verfasst worden sind, werde ich mich in dieser Folge auf einen allgemeineren Überblick konzentrieren. Weitere Aspekte und Geschichten über das Reisen im Mittelalter, auf die ich bei den Recherchen zu meinen historischen Romanen gestoßen bin, spare ich mir für weitere Etappen auf.

Waren die Menschen im Mittelalter überhaupt viel unterwegs? Wer reiste? Und warum?

Im Frühmittelalter waren die Wege schlecht und die Wälder finster. „Jeder Ortswechsel ist fast eine Weltreise“, urteilt Arno Borst in seinem Buch Lebensformen im Mittelalter. Der Benediktiner Richerus berichtete über seine Reise von Reimes nach Chartres im Jahr 991: „Am nächsten Tag brach ich nach Meaux auf. Aber als ich mit meinen zwei Begleitern auf verschlungene Waldwege geriet, häuften sich die Widerwärtigkeiten. Denn an den Wegkreuzungen gingen wir fehl und machten einen Umweg von sechs Meilen.“ Wenig später brach bei strömendem Regen auch noch das Packpferd zusammen und verendete. „Welche Verwirrung und Angst mich ergriff, mögen diejenigen ermessen, die einmal ähnliche Unfälle erlitten und sie mit verwandten Situationen vergleichen können“, klagte Richerus von Reims.

Neben den Geistlichen reisten auch Adelige und alle, die mit ihnen zu tun hatten. Das Reisekönigtum bestand ab der fränkischen Zeit bis zum Spätmittelalter. Da es keine Hauptstädte gab, reiste der sogenannte Reisekaiser oder Reisekönig mit seiner Familie und seinem Hofstaat durch sein Reich. Dieses Unterwegssein war wichtig, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Denn nur, wenn der Herrscher sich in regelmäßigen Abständen sehen ließ und Recht sprach, ordnete man sich ihm auch langfristig unter.

Es heißt, Karl der Große sei mit eintausend bis zweitausend Menschen unterwegs gewesen.  So ein durchschnittlicher Königshof legte zwanzig bis dreißig Kilometer pro Tag zurück. Station wurde in den Pfalzen gemacht, in Burgen und Klöstern, aber auch in Dörfern, Städten und auf Höfen. Wenn man bedenkt, wie viele Ochsen diese Menschen täglich aßen, wie viele Weideplätze die Pferde brauchten, war der Besuch eine enorme Belastung für einen Ort. Nicht umsonst lautet ein damaliges Sprichwort: „Den König habe zum Freund, aber nicht zum Gast.“

Bis zum elften Jahrhundert machten die ausgedehnten Urwälder vor allem in Mitteldeutschland den Reisenden das Leben schwer. Ging es über die Berge, waren die Reisenden am Extremsten von Wegen und Witterung abhängig – da galten schon zehn Kilometer am Tag als achtbare Leistung. Die Verzögerungen auf See waren hingegen unberechenbar. Oft musste wochenlang auf den richtigen Wind gewartet werden. Ludwig der Heilige brauchte 1249 für die Strecke Zypern – Damiette (also 400 Kilometer) 23 statt der vorgesehenen 3 Tage. Marco Polo musste auf Sumatra wegen schlechten Wetters gleich fünf Monate pausieren. Bei gutem Wind konnte man hingegen in einer Woche 1400 Kilometer schaffen.

Doch Handel und Wandel nahmen zu, Städte wurden größer, Siedlungen wurden gegründet und Wege ausgebaut, damit die neuen vierrädrigen Handelswagen besser fahren konnten. Reisen hing unmittelbar mit politischem Einfluss und Wohlstand zusammen, wenn man an die reichen Hansestädte denkt. Lübeck beispielsweise legte ab dem 13. Jahrhundert durch den Fernhandel vor allem über die Ostsee und nach Venedig einen märchenhaften Aufstieg hin. Handwerker wanderten auf der Suche nach Arbeit von Stadt zu Stadt, Gesellen gingen auf Wanderschaft, um ihre Ausbildung zu vervollständigen. Wer es sich leisten konnte, floh im Sommer aus der Stadt, in der sich Seuchen schnell verbreiten, auf die Landgüter.

An viel genutzten Strecken im Gebirge wurden Hospize gegründet, neue Routen  erschlossen. Ab dem 12. Jahrhundert kamen Reiseerleichterungen durch den Bau von Steinbrücken hinzu, frühe Beispiele sind in Regensburg und London. Hilfreich war auch das Verlegen von Straßenpflaster, wie ab 1185 in Paris. „Die Verfügbarkeit des Geldes steigert die Mobilität“, urteilt Arno Borst. Allerdings stiegen damit auch die unzähligen Zölle und Abgaben, die in jeder Stadt, an jeder Brücke und jedem Pass geleistet werden mussten.  Das Bevölkerungswachstum am Ende des 12. Jahrhunderts und das christliche Expansionsbestreben trieben ebenfalls das Siedlungswesen voran. Die Grenzen des Reiches wurden immer weiter verschoben, vor allem gen Osten. Diese Besiedelung wurde von den Tempelrittern sowie dem Deutschen Orden unterstützt. Im Namen der Christianisierung nahmen sie den sogenannten Heiden im Baltikum ihr Land ab (ein Thema in meinen Romanen Hansetochter und Die Perlenfischerin). Vor allem die unversorgten Söhne adeliger Familien und arme Bauern und Handwerker suchten im Osten ein Auskommen. Hungersnöte, Unwetter und Seuchen setzten ebenfalls Völkerwanderungen in Gang.

Die meisten Menschen waren zu Fuß unterwegs, wobei sie pro Stunde vier bis sechs Kilometer schafften, was 30 bis 40 Kilometer pro Tag entsprach. Würden wir in der Geschichte noch weiter zurückgehen, würden wir auf die Stafettenläufer im Inkareich stoßen, die täglich bis zu 240 Kilometer zurückgelegt haben sollen. Der Kurierdienst im Mongolenreich soll sogar 375 Kilometer in 24 Stunden geschafft haben – eine erstaunliche Zahl, die ich in Norbert Ohlers Standardwerk Reisen im Mittelalter gefunden habe. Zu Pferde konnte man im Schnitt 50 bis 60 Kilometer schaffen. Grundsätzlich gilt laut Norbert Ohler: „Zu Wasser reiste man im Allgemeinen nicht nur schneller, sondern auch billiger als zu Lande.“

Mit Flussschiffen war eine Strecke von 100 bis 150 Kilometer möglich – flussabwärts auf jeden Fall. Flüsse bargen aber auch Gefahren. So fielen im neunten Jahrhundert immer wieder die Wikinger entlang der Flüsse ins Karolingerreich ein. Sie rückten auf ihren hochseetüchtigen Schiffen schneller vor, als die Boten die Warnungen verbreiten konnten. Doch auch ohne Wikinger war eine Flussüberquerung lebensgefährlich. Immer wieder liest man in Chroniken von reißenden Flüssen oder Sturzfluten. Auch gab es damals noch nicht viele Brücken, so dass lange nach Fähren oder Furten gesucht werden musste. Wegen dieser Gefährlichkeit gibt es auch so viele Sagen über Flussgeister, die Menschen zum Verhängnis werden, wie die Loreley oder Wassernixen. Nicht umsonst trägt der heilige Christopherus Jesus auf den Schultern über einen Fluss und gilt als Schutzheiliger der Reisenden.

Auch mit dem weiteren Aufkommen des Herbergswesens spielte die Gastfreundschaft eine wichtige Rolle. Ansonsten trank der Reisende aus Flüssen und ernährte sich von Brotzeiten oder dem, was er am Wegesrand fand.

Manches bliebt jedoch im Laufe der Jahrhunderte gleich. In der Zeit vor Wanderkarten und Navigationsgeräten tauschten die Reisenden sich über ihre Routen aus und schlossen sich aus Sicherheitsgründen zu Gruppen zusammen.

Entgegen der Vorstellung, dass Frauen nur Haus, Hof oder Burg hüteten, waren sie auch unterwegs. Im Reisekönigtum reisten Adelige ihren Männern nach oder voraus, statteten Besuche ab, gingen auf Pilgerfahrten. Frauen waren aber auch als Händlerinnen unterwegs, wie Katharina Ysenmengersche aus Danzig, die im fünfzehnten Jahrhundert Geschäftsreisen nach England unternahm.

Ein gut dokumentiertes Beispiel für eine frühe Reisende ist die englische Mystikerin und Visionärin Margery Kempe (ca. 1373 bis 1438), die ihre Erfahrungen bei ausgiebigen Pilgerreisen durch Europa und Asien niederschrieb. Etwa zur gleichen Zeit hielt der englische Dichter Chaucer in seinen Canterbury-Tales die Abenteuer Pilgerreisender fest.

Zuletzt habe ich mich intensiv bei meinem historischen Roman Der Chirurg und die Spielfrau, der im dreizehnten Jahrhundert spielt, mit dem Reisen befasst. In diesem Roman legen meine Hauptfiguren beeindruckende Entfernungen zurück. Da gibt es beispielsweise die Reisen der Kreuzritter von Norddeutschland über Spanien und Portugal nach Genua und schließlich ins Heilige Land. Oder Reisen entlang der Mittelmeerküste bis ins italienische Landesinnere. Gereist wird zu Fuß, per Pferd, Wagen und Schiff.

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Szene aus dem Roman vorlesen. Sie spielt in Groningen, wo 1217 gerade ein Schiff mit Kreuzrittern ablegt, die auf dem Weg ins Heilige Land sind. Meine Hauptfigur Thonis will auch unbedingt auf dieses Schiff.

„Pferde wurden durch die Ladeluke auf die Marienknecht gebracht. Wie viele es waren! Kein Wunder, besaß jeder Ritter, der etwas auf sich hielt, doch ein Streitross, ein Marschpferd und ein Lastpferd. Von der anderen Seite wurden die Menschen und weiteres Gepäck mit Frachtkähnen herangeschafft. Jetzt gerade ruderte man Ritter, die eng an eng auf einem Kahn standen, hinüber. Ein seltsamer Anblick: waffenstarrende Krieger, der Macht der Elemente ausgeliefert.“

Mich hat besonders beeindruckt, dass ja, was ich mir bis dahin nie so richtig klargemacht hatte, die Ritter mit ihren Schlacht- und Reitpferden auf eine Seefahrt gingen.

Gerade die Werbetätigkeit der Prediger für die Kreuzzüge setzte ab dem elften Jahrhundert die Massen in Bewegung. Der Kölner Domscholaster Oliver muss in Friesland den Kreuzzug so mitreißend gepredigt haben, dass einem Aufruf fünfzigtausend Friesen folgten, darunter auch Frauen.

Aus dem 12. Jahrhundert liegen uns keine Log- oder Tagebücher von Kapitänen vor, wohl aber Pilgerberichte. Benjamin von Tudela beispielsweise war Rabbi in einer Stadt in Navarra und begann seine Pilgerreise 1160. Benjamin berichtet von seinen Erfahrungen im Heiligen Land, schildert aber auch die Sitten und Gebräuche in vielen Städten und liefert wertvolle Anhaltspunkte über die Reisegeschwindigkeit. Er schrieb beispielsweise: „Es braucht vier Tage, um von Marseille aus über das Meer nach Genua zu gelangen.“

Burchard von Straßburg, der 1147 als Legat Kaiser Friedrichs I. zu Sultan Saladin unterwegs war, beschreibt diese Reise ausführlich. Erstaunlicherweise hat es schon damals eine Art Liniendienst zwischen Genua und der Levante gegeben. Diese mindestens 2810 Kilometer lange Strecke nahm rund zwei Monate in Anspruch.

Auch der Sekretär des Statthalters von Granada, Ibn Dschubair, beschrieb im zwölften Jahrhundert seine Reisen. So schildert Ibn Dschuba ausführlich einen Sturm im Mittelmeer: „Flutmassen schlugen ständig auf uns ein, die Wellenkronen ließen die Herzen zerspringen.“ Und: „Die Kapitäne der Christen und die seekundigen Muslime stimmten überein, dass sie niemals zuvor ein solches Unwetter erlebt hatten.“ Er erzählt auch, dass sich Kreuzritter und Muslime ein Schiff teilten, sich aber an Bord aus dem Weg gingen. Interessant ist seine Schilderung, wie die Christen an Bord das Allerheiligenfest feierten. „Das ganze Schiff war von oben bis unten von angezündeten Lampen erleuchtet.“ Über die Handels- und Karawanenstadt Akko schreibt er: „Wege und Straßen ersticken unter dem Gedränge der Menschen, so dass es schwer ist, einen Fuß auf den Boden zu setzen.“

Als König Jaume 1229 mit etwa dreitausend Mann vom spanischen Festland zur Befreiung Mallorcas aus den Händen der Mauren aufbrach, sorgten etwa 150 größere und etwa die gleiche Anzahl kleinerer Schiffe für die Überfahrt der Ritter, Pferde und Soldaten. Das ganze Meer sei weiß von Segeln gewesen, so groß war die Flotte, schrieb der König, den man den Eroberer nannte, später.

Die Jahreszeiten waren für die Sicherheit der Reisenden entscheidend. In den meisten nördlichen Häfen gab es eine Winterruhe, weil die Schiffsreisen ab den Herbststürmen zu gefährlich waren. Der Tag Kathedra Petri, oder Petri Stuhlfeier, der 22. Februar, war oft der Startschuss für den erneuten Aufbruch. Im Mittelmeer stachen die Schiffe wegen der Stürme zeitweise erst wieder ab April gen Norden in See.

Weil die Schiffsreisen so gefahrvoll waren, erwarben Kaufleute Anteile an vielen Schiffen und verteilten ihre Waren – so streuten sie das Risiko. Wer das nicht tat, konnte durch einen Piratenüberfall oder einen Sturm in den Ruin getrieben werden. Die erste Seegüterversicherung wurde 1395 in Venedig abgeschlossen und setzte sich schnell durch. Später gab es sogar eine Versicherung für den Fall, dass man als Seemann in die Hände von Sklavenhändlern geriet. Aber das ist eine andere Geschichte …

Literaturhinweise:

David Abulafia Das Mittelmeer

Norbert Ohler Reisen im Mittelalter

Wulf Schadendorf Zu Pferde, im Wagen, zu Fuß

Foto: Ein Frachtwagen im Museum Corvey/Schloss Corvey

Sonntag, 21. Juni 2020

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